Mittelalter
Sophie (17) aus Krefeld hatte sich zum Geburtstag nur Geld gewünscht und Zeitungen ausgetragen, um sich die Reise ins Mittelalter leisten zu können. Für €1999 („Mittelalter wie bei der Wanderhure“) brachte sie Lidl-Reisen für eine Woche nach Würzburg 1220.
Angekommen auf dem Kopfsteintrottoire der Burg sah sie an sich herab und musste ob des groben Schnitts ihres trübtürkisen Kleides, den in zwei Stücken genähten Ärmeln und der groben Verschnürung an der Vorderseite kichern. Auch um sie herum sah es aus, wie sie es sich vorgestellt hatte: Mauern aus großen Steinen, Holzvorrichtungen, vereinzelte Strohballen an den Straßenrändern, Menschen, die auf Pferde- oder Ziehkarren Holzscheite, Äpfel oder Kinder transportierten. Stimmengewirr. Sophie kicherte erneut, denn mit ihren 1,75 Metern war sie sogar größer als die Männer unter den Anwesenden. Die meisten hätte sie als Stadtschrate bezeichnet, würden sie nicht selbst so selbstgeschneidert anmutende Lumpen tragen. Sophie blickte in die rissigen, teils listigen, teils tumben Gesichter. Ein Hutzelweib sprach zu ihr, aber Sophie verstand nur „Magedin“, was Mädchen oder junge Frau bedeuten mochte.
Abends fand sie ein Wirtshaus; in dem saßen jedoch nur ein paar grobschlächtige Männer mit ungustiösen Ausdünstungen, die Brotkanten und plumpe Würste aßen. Keine Spur von einem Gelage, geschweige denn einer sinnenfrohen Wanderhure.
Zurück im Dunkel der Gassen spähte Sophie vergeblich nach Pärchen, die im Schutz des Dunkels der Gassenecken die Beine umeinander schlangen, aber sie schreckte nur ein paar Ratten auf.
Nach einer hungrigen, empfindlich kalten Nacht auf einem Heuhaufen versuchte Sophie, einem Händler auf dem Marktplatz ein paar Äpfel zu stehlen. Prompt bemerkte der dies, schrie auf und machte die Meute auf Sophie aufmerksam, worauf sie durch viele Gassen und um viele Ecken rennen musste, um ihnen zu entkommen.
Nachmittags auf der Straße erblickte Sophie eine saubere Frau in einem Kleid aus mattem Purpur, das Gesicht blass, die Augen kaltblau, das Haar fahlblond. Ihr Begleiter trug einen vollkommen lächerlichen Pagenschnitt und hatte Gesichtszüge, als wäre sein Vater auch der Groß- und Urgroßvater.
Sie folgte den beiden heimlich bis zum Abend, wo sie offenbar zu einer Adelsgesellschaft in der Burg geladen waren. Sophie gelang es, auf einen Vorsprung zu klettern und durch ein Fenster zu spähen. Aber statt Gauklern, Narren, Wildbrät am Spieß, feurigem Tanz, starken Rittern und edlen Fräulein beobachtete sie ein Trauerspiel plumpleibiger, lachhaft gekleideter und frisierter Menschen, die nichts taten außer zu essen und gelegentlich einen Schluck aus einem Becher zu nehmen. Sophie fand es unappetitlich, dass sie die Fleischknochen einfach auf den Tisch legten. Der Kleine mit dem Pagenschnitt tauchte gar seinen Zeigefinger in eine Schüssel und lutschte mit vulgärer Hingabe daran. Neben ihm legte sich seine Frau zum Verzehr einer Suppe fast bäuchlings auf den Tisch. Als der dicke Herr gegenüber die Tischdecke zum Gesicht hoch zog und mit Verve sein Nasensekret hineinblies, sprang Sophie von dem Vorsprung, beugte sich übers Trottoire und entleerte ihren Magen um die beiden Äpfel, die er enthielt.
Am letzten Tag hatte Sophie noch eine Begegnung der sonderlichen Art: Ein betagter Mann mit Laute unter der Achsel trat auf sie zu, musterte sie vom Scheitel zu den Füßen und sprach: „Herzeliebez frowelin, got gebe dir hiute und iemer guot!“
Sophie lächelte seltsam berührt. Ein paar Stunden später reiste sie hungrig, schmutzig, durchfroren und um ihren Kindheitstraum beraubt zurück nach 2012.
Dank an Anja Stiller.
Ein Mittelalterelement in der Gegenwart ersetzt nicht die Zeitreise.